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Menschliches, Allzumenschliches: Ein Buch für freie Geister
Friedrich Wilhelm Nietzsche
(1878)

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Menschliches, Allzumenschliches: Ein Buch für freie Geister Menschliches, Allzumenschliches: Ein Buch für freie Geister
1.1.
Es ist mir oft genug und immer mit grossem Befremden ausgedrückt
worden, dass es etwas Gemeinsames und Auszeichnendes an allen meinen
Schriften gäbe, von der "Geburt der Tragödie" an bis zum letzthin
veröffentlichten "Vorspiel einer Philosophie der Zukunft": sie
enthielten allesammt, hat man mir gesagt, Schlingen und Netze
für unvorsichtige Vögel und beinahe eine beständige unvermerkte
Aufforderung zur Umkehrung gewohnter Werthschätzungen und geschätzter
Gewohnheiten. Wie? Alles nur - menschlich-allzumenschlich? Mit diesem
Seufzer komme man aus meinen Schriften heraus, nicht ohne eine Art
Scheu und Misstrauen selbst gegen die Moral, ja nicht übel versucht
und ermuthigt, einmal den Fürsprecher der schlimmsten Dinge zu machen:
wie als ob sie vielleicht nur die bestverleumdeten seien? Man hat
meine Schriften eine Schule des Verdachts genannt, noch mehr der
Verachtung, glücklicherweise auch des Muthes, ja der Verwegenheit.
In der That, ich selbst glaube nicht, dass jemals jemand mit einem
gleich tiefen Verdachte in die Welt gesehn hat, und nicht nur als
gelegentlicher Anwalt des Teufels, sondern ebenso sehr, theologisch
zu reden, als Feind und Vorforderer Gottes; und wer etwas von den
Folgen erräth, die in jedem tiefen Verdachte liegen, etwas von den
Frösten und Aengsten der Vereinsamung, zu denen jede unbedingte
Verschiedenheit des Blicks den mit ihr Behafteten verurtheilt, wird
auch verstehn, wie oft ich zur Erholung von mir, gleichsam zum
zeitweiligen Selbstvergessen, irgendwo unterzutreten suchte - in
irgend einer Verehrung oder Feindschaft oder Wissenschaftlichkeit oder
Leichtfertigkeit oder Dummheit; auch warum ich, wo ich nicht fand, was
ich brauchte, es mir künstlich erzwingen, zurecht fälschen, zurecht
dichten musste (- und was haben Dichter je Anderes gethan? und wozu
wäre alle Kunst in der Welt da?). Was ich aber immer wieder am
nöthigsten brauchte, zu meiner Kur und Selbst-Wiederherstellung, das
war der Glaube, nicht dergestalt einzeln zu sein, einzeln zu sehn, -
ein zauberhafter Argwohn von Verwandtschaft und Gleichheit in Auge und
Begierde, ein Ausruhen im Vertrauen der Freundschaft, eine Blindheit
zu Zweien ohne Verdacht und Fragezeichen, ein Genuss an Vordergründen,
Oberflächen, Nahem, Nächstem, an Allem, was Farbe, Haut und
Scheinbarkeit hat. Vielleicht, dass man mir in diesem Betrachte
mancherlei "Kunst", mancherlei feinere Falschmünzerei vorrücken
könnte: zum Beispiel, dass ich wissentlich-willentlich die Augen vor
Schopenhauer's blindem Willen zur Moral zugemacht hätte, zu einer
Zeit, wo ich über Moral schon hellsichtig genug war; insgleichen dass
ich mich über Richard Wagner's unheilbare Romantik betrogen hätte, wie
als ob sie ein Anfang und nicht ein Ende sei; insgleichen über die
Griechen, insgleichen über die Deutschen und ihre Zukunft - und es
gäbe vielleicht noch eine ganze lange Liste solcher Insgleichen?
- gesetzt aber, dies Alles wäre wahr und mit gutem Grunde mir
vorgerückt, was wisst ihr davon, was könntet ihr davon wissen, wie
viel List der Selbst-Erhaltung, wie viel Vernunft und höhere Obhut
in solchem Selbst-Betruge enthalten ist, - und wie viel Falschheit
mir noch noth hut, damit ich mir immer wieder den Luxus meiner
Wahrhaftigkeit gestatten darf?... Genug, ich lebe noch; und das Leben
ist nun einmal nicht von der Moral ausgedacht: es will Täuschung, es
lebt von der Täuschung... aber nicht wahr? da beginne ich bereits
wieder und thue, was ich immer gethan habe, ich alter Immoralist und
Vogelsteller - und rede unmoralisch, aussermoralisch, "jenseits von
Gut und Böse"? -


Es ist mir oft genug und immer mit grossem Befremden ausgedrückt
worden, dass es etwas Gemeinsames und Auszeichnendes an allen meinen
Schriften gäbe, von der "Geburt der Tragödie" an bis zum letzthin
veröffentlichten "Vorspiel einer Philosophie der Zukunft": sie
enthielten allesammt, hat man mir gesagt, Schlingen und Netze
für unvorsichtige Vögel und beinahe eine beständige unvermerkte
Aufforderung zur Umkehrung gewohnter Werthschätzungen und geschätzter
Gewohnheiten. Wie? Alles nur - menschlich-allzumenschlich? Mit diesem
Seufzer komme man aus meinen Schriften heraus, nicht ohne eine Art
Scheu und Misstrauen selbst gegen die Moral, ja nicht übel versucht
und ermuthigt, einmal den Fürsprecher der schlimmsten Dinge zu machen:
wie als ob sie vielleicht nur die bestverleumdeten seien? Man hat
meine Schriften eine Schule des Verdachts genannt, noch mehr der
Verachtung, glücklicherweise auch des Muthes, ja der Verwegenheit.
In der That, ich selbst glaube nicht, dass jemals jemand mit einem
gleich tiefen Verdachte in die Welt gesehn hat, und nicht nur als
gelegentlicher Anwalt des Teufels, sondern ebenso sehr, theologisch
zu reden, als Feind und Vorforderer Gottes; und wer etwas von den
Folgen erräth, die in jedem tiefen Verdachte liegen, etwas von den
Frösten und Aengsten der Vereinsamung, zu denen jede unbedingte
Verschiedenheit des Blicks den mit ihr Behafteten verurtheilt, wird
auch verstehn, wie oft ich zur Erholung von mir, gleichsam zum
zeitweiligen Selbstvergessen, irgendwo unterzutreten suchte - in
irgend einer Verehrung oder Feindschaft oder Wissenschaftlichkeit oder
Leichtfertigkeit oder Dummheit; auch warum ich, wo ich nicht fand, was
ich brauchte, es mir künstlich erzwingen, zurecht fälschen, zurecht
dichten musste (- und was haben Dichter je Anderes gethan? und wozu
wäre alle Kunst in der Welt da?). Was ich aber immer wieder am
nöthigsten brauchte, zu meiner Kur und Selbst-Wiederherstellung, das
war der Glaube, nicht dergestalt einzeln zu sein, einzeln zu sehn, -
ein zauberhafter Argwohn von Verwandtschaft und Gleichheit in Auge und
Begierde, ein Ausruhen im Vertrauen der Freundschaft, eine Blindheit
zu Zweien ohne Verdacht und Fragezeichen, ein Genuss an Vordergründen,
Oberflächen, Nahem, Nächstem, an Allem, was Farbe, Haut und
Scheinbarkeit hat. Vielleicht, dass man mir in diesem Betrachte
mancherlei "Kunst", mancherlei feinere Falschmünzerei vorrücken
könnte: zum Beispiel, dass ich wissentlich-willentlich die Augen vor
Schopenhauer's blindem Willen zur Moral zugemacht hätte, zu einer
Zeit, wo ich über Moral schon hellsichtig genug war; insgleichen dass
ich mich über Richard Wagner's unheilbare Romantik betrogen hätte, wie
als ob sie ein Anfang und nicht ein Ende sei; insgleichen über die
Griechen, insgleichen über die Deutschen und ihre Zukunft - und es
gäbe vielleicht noch eine ganze lange Liste solcher Insgleichen?
- gesetzt aber, dies Alles wäre wahr und mit gutem Grunde mir
vorgerückt, was wisst ihr davon, was könntet ihr davon wissen, wie
viel List der Selbst-Erhaltung, wie viel Vernunft und höhere Obhut
in solchem Selbst-Betruge enthalten ist, - und wie viel Falschheit
mir noch noth hut, damit ich mir immer wieder den Luxus meiner
Wahrhaftigkeit gestatten darf?... Genug, ich lebe noch; und das Leben
ist nun einmal nicht von der Moral ausgedacht: es will Täuschung, es
lebt von der Täuschung... aber nicht wahr? da beginne ich bereits
wieder und thue, was ich immer gethan habe, ich alter Immoralist und
Vogelsteller - und rede unmoralisch, aussermoralisch, "jenseits von
Gut und Böse"? -




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